Uns begegnen immer wieder Argumente, beim Fechten mit Stahlschwertern, Federn oder anderen Blankwaffen die Fechtmaske (wie auch andere Schutzausrüstung) im Training zeitweise auszulassen.
Das wären unter anderem folgende:
- Ohne Fechtmaske ist man grundsätzlich vorsichtiger beim Angriff und schont so seine/n Partner/in.
- Man achtet mehr auf die Eigensicherung.
- Die Wahrnehmung für die Technik ist klarer und schärfer.
- Jede/r ist für sich selbst verantwortlich.
- Mit dem Fortschreiten der Erfahrung werden beide Fechter/innen immer achtsamer.
Diese Argumente sind alle für sich grundsätzlich schlüssig und nachvollziehbar. Gleichzeitig möchten wir Dich einladen, diese näher zu beleuchten...
"Ich weiß, was ich tue"
Ein Moment der Unaufmerksamkeit würde zur Katastrophe führen. Doch je erfahrener ein Fechter ist, desto routinierter ist er doch? Das ist richtig. Aber Routine führt zu mangelnder Aufmerksamkeit. Unser Gehirn ist stets bemüht, Handlungsroutinen zu entwickeln. Das lässt sich nicht umgehen. Sehen wir uns exemplarisch einen Beruf an, bei dem man bereits in der Ausbildung auf Drill und viele Wiederholungen setzt - so dass man selbst unter Druck keine Fehler macht: Der Pilot. Interessanterweise ist ausgerechnet die Luftfahrt aber dafür bekannt, dass man Checklisten führt - weil man erkannt hat, dass selbst der Erfahrenste unvermeidlich Fehler machen kann - und wird.
"Ich passe auf"
Wer sein Schwert mit der Zeit gut unter Kontrolle hat, aufmerksam ficht und sich nicht überschätzt, ist gut in der Lage, seine Waffe und Aktionen so zu kontrollieren, dass im Fall der Fälle die Aktion rechtzeitig abgebrochen oder umgelenkt werden kann. Ungleich schwerer fällt es jedoch, auf völlig überraschende Bewegungen des Partners zu reagieren, z.B: bei Missverständnissen in der Übungsabsprache oder einem Ausrutschen / Umknicken des Partners. Jeder kennt dieses Phänomen vom Führerschein: Der „Reaktionsweg“, die Stecke, die das Fahrzeug ungebremst zurücklegt, vom Entdecken der Gefahr bis zur Ausführung der Meidbewegung (Bremsen). In dieser „Reaktionszeit“ ist es einem selbst unmöglich, rechtzeitig z.B. sein Schwert aus der Bedrohung zu bewegen.
"So schlimm wird es schon nicht werden!"
Was passiert eigentlich bei einer Verletzung? Bei den Techniken Liechtenauers gehen viele Aktionen direkt zum Kopf, bzw. zum Gesicht. Im Gesicht ist der Knochen hinter den Augen am dünnsten und zugleich sind die Augenhöhlen wie Trichter geformt, so dass im Falle eines Gesichtstreffers die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass die Waffe direkt ins Gehirn eindringt. Meldungen in der Presse hierzu lassen sich bereits auch in unserem Sport im Internet finden. Wird im Gehirn die Region hinter den Augen verletzt und der Partner überlebt dies (entgegen des Beispiels unten), dann sind massive Schädigungen des Gehirns zu befürchten. In diesem Fall wäre mit einer geistigen Behinderung zu rechnen. Das möchte sicherlich niemand seinem Partner zufügen oder dessen Familie danach erklären....!
"Jeder ist für sich selbst verantwortlich"
Kann man sich mental wirklich davon lösen, wenn man ohne eigene Schuld seinen Partner verletzt?
Hier gibt es ein berühmtes Beispiel: Der Sportfechter Matthias Behr war in einem WM-Gefecht mit seinem Gegner Wladimir Smirnow, als Smirnow am 19. Juli 1982 tödlich verletzt wurde: Behrs Klinge durchdrang Smirnows Fechtmaske, durchschlug das Auge und drang ins Gehirn ein. Smirnow starb wenig später an der Verletzung. Er und seine Frau erwarteten ein Baby. Behr hatte viele Jahre mit den psychischen Folgen zu kämpfen.
In diesem Fall wurde die Ausrüstung vorschriftsgemäß getragen. Sie galt gemäß des damaligen Erfahrungsstandes als sicher. Behr hätte sich also genau das sagen können: "Ich bin nicht für die Verletzung durch einen Unfall verantwortlich". Was intellektuell greifbar erscheint, war für Behr - wie bestimmt für die meisten von uns - psychisch eine ganz andere Dimension!
→ Hierzu lest bitte den entsprechenden Artikel in der Stuttgarter Zeitung.
Abgesehen von den eigenen Selbstvorwürfen: Wer möchte der Familie des/der Verstorbenen erklären, dass jeder für sich selbst verantwortlich sei und schließlich die Fechtmaske weggelassen wurde, weil es um eine besondere Fechterfahrung ging...?!
"Ohne Schutz agieren beide vorsichtiger"
Absolut! Das kann man nur unterschreiben. Und gleichzeitig drängen sich hier einige provokante Gegenfragen auf:
Ist es wirklich erstrebenswert, dass der/die Fechter/in das Weglassen der Schutzausrüstung
braucht, um vorsichtig und umsichtig zu fechten?
Werfen wir einen Blick in den Straßenverkehr: Es gibt immer wieder Raser/innen, die sich und andere gefährden. Kam deshalb der Gesetzgeber jemals auf die Idee, die Sicherheitsgurte im Auto wegzulassen, um diese Menschen zum vorsichtigerem Fahren zu veranlassen? Oder den Airbag?
"Das muss man einfach mal ausprobiert haben!"
Als wir 1999 mit der Fechtschule gestartet sind, hatten zwar die meisten Fechtmasken - aber nicht alle. Zu Beginn hatten wir die Regel: Vorsichtig und achtsam kann mit Stahl in geringer Geschwindigkeit auch ohne Maske gefochten werden. Anfangs ging das auch gut - einfach, weil wir nur ca. 40 Leute waren. Mit dem Wachstum der Fechtschule wuchs auch eines: Die statistische Wahrscheinlichkeit eines Unfalls. Es ist beim Fechten ohne Maske - trotz aller Vorsichtsmaßnahmen - keine Frage,
ob, etwas passiert, sondern nur
wann. Tatsächlich hatten wir 2009 (erst zehn Jahre später) unseren ersten Treffer im Gesicht. Ein paar Jahre später folgte der zweite. Beide Male traf die Waffe nicht das Auge, sondern ein Stück darüber. Was für ein Glück! Beide Male handelte es sich um eine Fehleinschätzung des Getroffenen, wodurch der Treffende nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte. Seitdem haben wir die Regel: Wer mit Metall und/oder auf Stoß ficht, trägt beim Partnertraining immer eine Fechtmaske - ohne Ausnahme.
Wir können die Idee sehr gut verstehen, dass es seinen Reiz und seine Argumente hat, ohne Maske zu fechten. Inzwischen haben wir jedoch das Glück, ohne Dauerschaden gelernt zu haben und dadurch heute eine andere Auffassung.
"Bei uns ist das anders!"
Das denken alle. "Wir gehen da ganz anders ran - deshalb kann das bei uns nicht passieren. Wir sind da viel vorsichtiger!" Die Erfahrung zeigt in vielen Branchen der Industrie: Sicherheitsmaßnahmen sind kein Zeugnis von fehlender Vorsicht und kein Freibrief. Sie sind nicht nur für all die Fälle, die man in seiner Vorsicht auf dem Schirm hat, sondern für all die Fälle, an die man noch nicht gedacht hat. Niemand kann alles bedenken; der Irrtum fährt immer mit. Es gibt immer Fälle, in denen die Beteiligten im Nachhinein sagen: "Also damit konnte keiner rechnen" / "Das ist eine Verkettung vieler ungünstiger Umstände" / "Das hat es noch nie gegeben."
Schauen wir uns mal um: Wie oft passieren um uns herum Unfälle, mit denen man niemals gerechnet hätte...?
"Sicher ist man nie zu 100%"
Ein Fechtschüler und Mitarbeiter der BASF gewährte uns einen Einblick in deren aktuelle Vorgehensweise im Bereich Arbeitssicherheit: Falls der Worst Case bedeuten würde, dass das Leben bedroht ist, wird die Frage nach der Wahrscheinlichkeit irrelevant. Es gilt die höchste Sicherheitsstufe.
Einem Unfallopfer bringt es nichts, lediglich zu einer statistischen Minderheit zu gehören.
Schlussbetrachtung
Die Argumente zum Weglassen der Maske (oder anderer Schutzausrüstung) am Anfang dieses Artikels sind auch in unseren Augen zunächst nicht von der Hand zu weisen. Und gleichzeitig stellt sich die Frage:
Ist dieses Fechterlebnis all die Risiken wert?
Es liegt bei fehlender Ausrüstung ausschließlich bei den Fechter/innen, dass kein Unfall passiert. Schutzausrüstung hat jedoch die Aufgabe, den Menschen in der Tatsache zu entlasten, dass wir nie unfehlbar sind. Lassen wir unsere Schutzausrüstung weg, wird ein Unfall mit nachhaltigen gesundheitlichen Folgen statistisch unausweichlich. Je mehr man
aufpasst und Vorsicht walten lässt, desto mehr dreht man lediglich die Uhr für den Zeitpunkt zurück.
Sportfechter/innen wissen das. Selbst ohne Freikampf - in einfachen Übungen - tragen stets alle eine Maske. Und hier wurde jede Sicherheitsregel, sowie die Beschaffenheit der Ausrüstung dadurch entwickelt, dass Unfälle passiert sind und man - dank einer positiven Fehlerkultur - daraus jedes Mal ein Stück gelernt hat. Lassen wir unsere Kollegen diese Opfer nicht umsonst erbracht haben...
Also, Ihr Lieben - Im Training mit Stahl: Maske auf! :-)
Zum Abschluss noch etwas zum Schmunzeln:
Edingen, Juni 2023